Gemen (Nordrhein-Westfalen)

Gemen graafschap.jpgDatei:Borken in BOR.svg  Gemen mit seinen derzeit ca. 8.200 Einwohnern seit 1969 ist ein Stadtteil von Borken – zwischen Bocholt (im W) und Coesfeld (im O) gelegen (Gemen auf einer hist. Karte von ca. 1760, aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei  und  Kartenskizze 'Kreis Borken', TUBS 2008, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).

In Gemen gab es eine kleine jüdische Gemeinde, die zu Beginn des 20.Jahrhunderts acht Familien zählte. Erste Hinweise auf jüdisches Leben im Ort liegen ab Mitte des 16.Jahrhunderts vor, seitdem sollen hier dauerhaft (nur sehr wenige) jüdische Familien gelebt haben.

Da Gemen als reichsunmittelbare Herrschaft politisch von den Münsteraner Fürstbischöfen unabhängig war und deren judenfeindliche Haltung nicht übernahm, hatte der Gemer Landesherr nach Ausweisung der Juden aus dem Fürstbistum (1560) diesen eine Aufnahme gewährt.

Seit der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts zählten auch die Glaubensgenossen der Nachbarorte Ramsdorf, Velen, Weseke und (zeitweise) Heiden zur Gemener Gemeinde. Seit 1856 gehörten die Gemener Juden zum Synagogenbezirk Borken.

Ab dem Jahre 1912 verfügte die hiesige Judenschaft - sie bestand derzeit aus acht Haushaltungen - über ein eigenes Synagogengebäude in der Ahauser Straße; zuvor hatten gottesdienstliche Zusammenkünfte über viele Jahrzehnte im Hause der Familie Löwenstein stattgefunden. Die Finanzierung des Baus der Synagoge hatte ein Baufond ermöglicht, in den - neben hiesigen Gemeindeangehörigen - auch in die USA ausgewanderte Gemener Juden eingezahlt hatten.

  Synagoge in Gemen (hist. Postkarte, um 1915/1920)

Das neue Synagogengebäude war im Jugendstil erbaut worden; der zweigeschossige Betsaal, in dessen Mitte die Bima sich befand, verfügte über eine an drei Seiten umlaufende Frauenempore.

Zur Einweihung verfasste Emil Löwenstein eine kleine Festschrift, in der es u.a. hieß: „ … Vollendet ist der Bau: Ein Gotteshaus - eine Stätte des gemeinsamen Gebetes zum Allerhöchsten ist neu geschaffen. Unter Gottes Schutz und der Förderung hoher und mildtätiger Gönner ist unsere Synagoge entstanden … Treten wir ein in das neue Haus: Ein freundlicher, lichtdurchfluteter Raum umfängt uns. Welche in Fortschritt ist erzielt?! … Möge in dem neuen Gotteshause nur die Sprache der Liebe vernommen werden und von dieser Stätte aus neue Friedensbande für den großen Menschenbrüderkreis geschlossen werden. Die vielbedeutenden Worte, die einst der weise König Salomo in weihevoller Stunde bei der Tempel-Einweihung gesprochen und die auch durch die Jahrtausende hindurch unantastbares, geistiges Eigentum unseres Volkes geblieben sind, mögen auch uns aus dem Herzen gesprochen sein: 'Welche Bitte und welches Anliegen auch immer Jemand aus Deinem Volke Israel haben möge - erhöre - und versöhne. - Auch wenn ein Fremder, der nicht Deinem Volke Israel angehört aus fernem Lande kommt und in diesem Hause betet, erhöre ihn an der Stätte Deines Thrones!' Dann wird sich das Prophetenwort (Jesaia 56,7) erfüllen erfüllen: 'Mein Haus ist ein Haus der Gebete für alle Völker.

Ein weit außerhalb des Ortes gelegener Begräbnisplatz war bereits im 18.Jahrhundert in Nutzung; er diente auch Verstorbenen aus den der zur Gemener Gemeinde gehörenden Orte als letzte Ruhestätte.

Juden in Gemen:

--- um 1730 ........................   2 jüdische Familien,

--- 1809 ...........................  28 Juden,

--- 1842 ...........................  51   “  ,*   * Gemeindebezirk

--- 1843 ...........................  24   “  ,

--- 1848 ...........................  42   “  ,*

--- 1871 ...........................  11   “  ,

--- 1895 ...........................   8   “  ,

         ...........................  37   “  ,*

--- 1912 ...........................  54   “  ,*

--- 1928 ...........................  47   “  ,

--- 1932/33 ........................  67   “  ,*

            ........................  39   “  ,

--- 1938 ...........................  56   “  ,*

--- 1941 (Mai) .....................  keine.

Angaben aus: Norbert Fasse (Bearb.), Borken und Borgen-Gemen, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen …, S. 222

 

Die jüdischen Familien - ihre Zahl lag in den 1920er Jahren bei sechs bis acht – mussten miterleben, wie sich Gemen in der Endphase der Weimarer Republik zu einer regionalen Hochburg der NSDAP entwickelte und die antisemitische Grundhaltung mit ersten Übergriffen sich dokumentierte. Neben dem Boykott jüdischer Gewerbetreibender („Das Kaufen bei Juden bedeutet Verrat am Volk und an der Nation“) kam es 1935 und 1937 auch zu gewalttätigen Übergriffen auf die Gemener Synagoge und auch auf die anwesenden Gottesdienstbesucher.

Während des Novemberpogroms 1938 drangen Gemener Nationalsozialisten in von jüdischen Familien bewohnte Wohnhäuser ein, demolierten die Inneneinrichtung und nahmen die meisten Erwachsenen fest. Die Synagoge wurde niedergebrannt. Am gleichen Tage berichtete der Amtsbürgermeister dem Landrat in Borken: „ ... In der Nacht vom 9. zum 10.November d. Js. entstand in der Synagoge in Gemen wohl infolge Abreißens einer elektrischen Leitung bedingt ein Brand, wodurch das Dach und die innere Einrichtung der Synagoge vernichtet wurden. Durch die Maßnahmen der Feuerwachpolizei konnte der Brand auf seinen Herd beschränkt werden und sind Nachbargebäude nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. ...“ Einige Monate später begann man mit dem Abriss der Ruine.

Danach verließen die meisten Gemener Juden ihren Heimatort; sie gingen meist ins Exil. Im Mai 1941 vermeldete der Amtsbürgermeister seiner vorgesetzten Behörde, dass nun Gemen „judenfrei“ sei.

Mindestens 30 Personen sollen Opfer der „Endlösung“ geworden sein.

 

Seit 1988 erinnert ein Gedenkstein an die kleine Gemeinde; der Text auf der steinernen Stele lautet:

Wie ließen es geschehen und bedachten nicht die Folgen. Haben wir daraus gelernt ? An dieser Stelle wurde am 9./10.November 1938 die Synagoge der jüdischen Gemeinde durch Brandstiftung zerstört. Die Stadt Borken gedenkt ihrer jüdischen Mitbürger, die durch Emigration und Vertreibung, Deportation und Ermordung Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurden.

 

Nahe dem Standort der früheren Synagoge (an der Ahauser Straße) soll künftig mit einem „Bodendenkmal“ an die ehemalige jüdische Gemeinde erinnert werden.

Auf dem bereits im 18.Jahrhundert bestehenden jüdischen Friedhof haben ca. 35 Grabsteine die Zeiten überdauert. Im Jahre 1999 kam es zu einer Schändung des Friedhofs; dabei wurden 14 Steine umgeworfen bzw. demoliert.

Jüdischer Friedhof (Aufn. Tetzemann, 2017, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

 

Zudem erinnert ein Relikt des Ritualbades im Keller eines Hauses in der Neustraße an einstiges jüdisches Gemeindeleben. Diese Mikwe – vermutlich gespeist durch Grundwasser (?) - soll aus der Mitte des 17.Jahrhunderts stammen.

 

 

 

Weitere Informationen:

Emil Löwenstein, Aus Vergangenheit und Gegenwart der israelitischen Gemeinde Gemen. Anlässlich der Synagogen-Einweihung den Festteilnehmern u. Freunden gewidmet, Gemen 18. Aug. 1912/5 Elul 5672, Krefeld 1912

August Bierhaus (Hrg.), “Es ist nicht leicht, darüber zu sprechen.” Der Novemberpogrom 1938 im Kreis Borken, in: "Schriftenreihe des Kreises Borken", No.9/1988

Anni Gördes, Verhängnisvolles Geschehen im November 1938, in: "Unsere Heimat. Jahrbuch des Kreises Borken 1988", S. 253/254

Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 191 – 193

Norbert Fasse, Diesseits der Katastrophe. Die jüdischen Gemeinden in Borken und Gemen 1815 - 1933. Vortrag zur Stadt- und Regionalgeschichte, Stadtmuseum Borken 2004

Diethard Aschoff, Zur Geschichte der Juden in der Herrschaft Gemen bis zum Ende des Alten Reiches (1550 – 1803), in: Heimatverein Vreden (Hrg.), Studien zur Geschichte des Westmünsterlandes, 2007, S. 103 – 146

Diethard Aschoff (Bearb.), Die Juden in der Herrschaft Gemen, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe. Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Münster, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen XLV, Ardey-Verlag, München 2008, S. 38 - 53

Norbert Fasse (Bearb.), Borgen-Gemen, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe. Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Münster, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen XLV, Ardey-Verlag, München 2008, S. 227 – 240

Mechthild Schöneberg/Thomas Ridder/Norbert Fasse, Die jüdischen Gemeinden in Borken und Gemen: Geschichte, Selbstorganisation, Zeugnisse der Verfolgung, Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2010

Heimatverein Gemen e.V./Montessori-Gesamtschule Gemen (Hrg.), Auf den Spuren jüdischen Lebens in Gemen – ein Rundgang, als PDF-Datei online abrufbar unter: heimatverein-gemen.de (2010)

Christian Damhus (Red.), Die Mikwe von Gemen, in: Jüdische Spuren im Westmünsterland. Eine fast verlorene Geschichte, o.O., S. 11 - 13

Die Mikwe in Gemen, Neustraße, online abrufbar unter: juedische-friedhoefe.info/friedhoefe-nach-regionen/nordrhein-westfalen/muensterland/borken-gemen/die-mikwe-rituelles-tauchbad-in-der-neustrasse

Peter Berger (Red.), „Bodendenkmal“ soll an Synagoge erinnern, in: „Borkener Zeitung“ vom 25.6.2018

Markus Schönherr (Red.), Synagoge soll sichtbar werden, in: „Borkener Zeitung“ vom 26.3.2019